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“Nesthäkchen”, Nesthorn NNW-Pfeiler

“Nesthäkchen”, Nesthorn NNW-Pfeiler

Text und Fotos: Silvan Metz

2016 war ich das erste Mal am Nesthorn. Die Tour über den rechten Sporn von P.3440 und
der lange Abstieg über den Beichgletscher blieben mir tief in Erinnerung. Ob es an den 22
Stunden von der Oberaletschhütte bis zum Parkplatz lag? Oder an der wilden Landschaft
voller großer Gletscherströme und steiler Granitpfeiler?

Schon damals war ich fasziniert von der versteckten Nordwand. “Welzenbachs Schwerste”
ist eine Ansage. Doch damals wie heute war der Gedanke, den ganzen Tag unter einem
riesigen Serac zu klettern nicht besonders verlockend. Vielleicht an den Granitpfeilern links
und rechts davon? Ich machte einige Fotos, doch so schnell sollte ich das Nesthorn nicht
wieder sehen. 2023, auf der Fußhornüberschreitung leuchtete der formschöne Gipfel wie
eine Einladung im ersten Morgenlicht herüber. Doch wie so oft blieben Pläne Pläne und
Ideen Ideen. Erst als Silvan Schüpbach, Peter Von Känel und Carlos Molina im Februar
2025 das “Kuckucksnest” am NNW-Pfeiler eröffneten packte es mich so richtig.

Anfang Mai stehen wir am Parkplatz und fragen uns, warum wir eigentlich Ski dabei haben:
Weit und breit ist kein Schnee zu sehen, der den Zustieg vereinfachen könnte. Wir sind auch zu faul, um uns mit dem Zwischensaisonfahrplan der Belalpbahn zu beschäftigen, also schleppen wir uns durch den schon grünen Bergwald. Die Rucksäcke sind schwer gepackt voller Kletter- und Lawinenausrüstung, Biwakzeug, Essen und eben Ski und Skischuhe. Fast schon sommerlich wirkt die Landschaft, erst an der Zunge des sterbenden
Oberaletschgletschers finden wir Reste von Weiß.


Das Nesthorn ist extrem abgelegen im hintersten Kessel des Beichgletschers, einem Zufluss des Oberaletschgletschers. Gute acht Kilometer Gletscherautobahn bis zum Wandfuß. Für mich macht die Abgeschiedenheit Nesthorn sehr reizvoll, aber jetzt gerade, von der Sonne zwischen endlosen Moränenrücken gebraten wirken auch die Seilbahnen von Chamonix recht attraktiv.


Am Zusammenfluss von Beich- und Oberaletschgletscher präsentiert sich nicht nur das
mächtige Aletschhorn, sondern wir sehen auch zum ersten Mal das Nesthorn. Allerdings
noch von der falschen Seite. Erst zwei Stunden später stehen wir unter dem NNW-Pfeiler.
Wir entscheiden uns, das Zelt an einer kleinen Felsinsel auf dem breiten Gletscherstrom
aufzustellen. So können wir in Ruhe unsere gedachte Linie studieren und müssen im
Abstieg nicht mehr unter einem großen Serac queren. Die 150 Höhenmeter zum Wandfuß
sollten am Morgen gefroren und auch zu Fuß kein Problem sein, denken wir.


Zelt aufbauen, Schnee schmelzen, Kletterzeug sortieren. Nach den Routinen des Alpinismus gehen wir früh ins Bett. Um 3:15 Uhr klingelt der Wecker, um 4:00 Uhr machen wir uns auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit ein schlechtes Omen: Der Schnee hat zwar perfekt abgestrahlt, nur leider nützt das nichts, wenn auch die hoch stehende Maisonne am Wandfuß nur die obersten Zentimeter zu Firn umgewandelt hat. Darunter haltloser
Grieselschnee. Was das für die Firnfelder in unserer Route bedeutet? Egal, das sehen wir später.


Der Bergschrund ist kein Problem. Auf den ersten Seillängen wollen wir einem schwach
ausgeprägten Gully folgen und hoffen auf Eis. In den ersten Seillängen werden wir nicht
enttäuscht. Doch als das Gully aufsteilt sehen zwei überhängende Stufen verdächtig nach
Schneepilzen statt Eis aus. Ich entscheide mich, stattdessen links der Rinne über perfekten
Fels zu klettern. Das stellt sich als richtige Entscheidung heraus, in der nächsten Seillänge
kann ich ins wieder eisgefüllte Couloir zurückqueren. Leider ist die Freude nicht von Dauer.
Schon am nächsten Aufschwung finde ich nur dünne, abgelöste Glasuren auf
geschlossenen Granitplatten. Die letzte Zwischensicherung weit unter mir. Nach einigen Hin und Her schaffe ich es, zwei kleine Pecker in Rissspuren zu schlagen. Die Peckerspitzen
gehen nur einen Zentimeter in den Granit, doch das muss genügen. Zu allem Überfluss
versteckt der Pulver alle Standplatzoptionen, wir müssen 10 Meter am laufenden Seil
klettern, bis ich endlich einen Riss für einen grünen Totem finde. “Staaand”.

Wir haben wenig Lust das zu wiederholen und das dünne Eis in der Verlängerung des Gullys sieht so aus, als möchte es noch einen draufsetzen. Stattdessen klettern wir rechts durch eine abdrängende Verschneidung mit einem perferkten Hauenriss. Nun müssen wir uns entscheiden: Eigentlich wollten wir über eine Abfolge von Schneefeldern direkt zum P.3404 klettern, doch der Schnee liegt nur lose auf endlosen Granitplatten. Nach rechts könnten wir um die Pfeilerkante in die NW-Seite wechseln, doch wir haben keine Ahnung, ob es da weitergeht. Eine Ungewissheit, die den Reiz von Erstbegehungen ausmacht. Zögerlich schaue ich ums Eck. Ich kann nicht weit sehen, aber immerhin ist der verwitterte Granit hier wesentlich kletterfreundlicher. Auch in der nächsten, leichteren Länge reicht der Blick in der konvexen Wand immer nur ein Stück weit. Vielleicht können wir uns so relativ leicht zum P.3404 schummeln, wo wir auf die historische Tour treffen? Schon beim Blick ums nächste Eck zerschlägt sich diese Hoffnung: Nur ein Meer aus Granit. Zwar überall irgendwie kletterbar, aber zeitaufwändig und die Orientierung ist nur noch per Bauchgefühl möglich. In einem Wettlauf mit der Sonne picke ich mich über dünne Glasuren und finde nach exakt 60 Metern eine Standplatzmöglichkeit. Die Wand öffnet einen Kessel, ich folge instinktiv dem linken Durchschlupf und nach 130 Metern am laufenden Seil sind wir auf der NNW-Pfeiler Route von Kirkpartrick und Hope.

Auch wenn die Tour schon 1905 eröffnet wurde, gegessen ist hier noch lange nichts. Die
erste Seillänge folgt noch recht logisch der Pfeilerkante, dann versperrt ein Block den Weg.
Silvan berichtete, dass Peter, Carlos und er bei der Erstbegehung des Kuckucksnests nun
immer östlich der Gratkante geklettert sind. Doch der Fels fällt senkrecht ins Bodenlose,
stattdessen wirkt die Westseite einladend. Zumindest bis zum nächsten, zackigen Teil des
NNW-Grates. Also folgen wir dem sonnigen Fels für eine Weile, bis ich vor einem
unüberwindbaren Gendarm zur Gratkante zurückklettere. Und siehe da, ein verstecktes
Band führt zurück auf die schattige NO-Seite! Von nun an bleiben wir immer knapp unter den scharfen Granitzacken und folgen dem, was bei besseren Verhältnissen einfache Firnbänder wären. Der lose Pulver auf den Granitplatten möchte uns aber noch nicht loslassen, also bleibt die Kletterei zeitfressend. Nur ein kurzes Gully überrascht uns mit perfekten Styropor, danach folgt weiterer Grieselschnee, bis wir endlich am Gipfelgrat ankommen. Doro spurt die letzten 120 Höhenmeter zum Gipfel, während die Sonne hinter dem formschönen Breithorn schon am Untergehen ist.

Der Abstieg ist zum Glück gespurt, auch durch den steilen, östlichen Gletscherarm können
wir drei Skispuren folgen und finden so den Durchschlupf durch einen riesigen Bergschrund auf Anhieb. Drei mal breche ich bis zur Hüfte in eine Spalte, dann kommen wir völlig fertig am Zelt an.

Der nächste Tag bringt wie vorhergesagt trübes Wetter. Wir packen unsere Rucksäcke
wieder voll bis die Nähte platzen und fahren im Nieselregen den langen Gletscher hinab. Als wir an der Endmoräne ankommen zeigt sich ein kurzer Sonnenstrahl, nur um gleich darauf Dauerregen Platz zu machen. Triefend nass macht der Gegenanstieg zur Belalp sogar noch weniger Spaß als nur mit schweren Rucksack, wer hätte das gedacht…

Facts “Nesthäkchen”:

660m bis P.3404, weitere 440m über den NNW-Grat zum Schneegrat. 900Hm.
M5+, WI4, 60°


Material:
60m Halbseile
Totems 0.2-2 doppelt
3-4 Pecker
2 Messerhaken
6 Exen
4-5 120cm Schlingen
Material zum Standplatzbau

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